Löhne und Einkommen
Die Lohnschere öffnet sich wieder
Die meisten Menschen im Erwerbsalter leben von einem Lohn. Wie hoch der Lohn ist, entscheidet denn auch wie gut es ihnen finanziell geht. Die Lohnentwicklung der letzten Jahre gibt Anlass zur Sorge. Einerseits sind die unteren und mittleren Löhne real gesunken. Andererseits ist wieder eine Lohnschere aufgegangen – nachdem sich diese in der Zeit nach der Finanzkrise wieder leicht geschlossen hatte.
Zwischen 2010 und 2016 stiegen die unteren und mittleren Löhne real stärker als die obersten 10 Prozent. Zwischen 2016 und 2022 hatten nur die bestbezahlten 10 Prozent real mehr Lohn (Gesamtwirtschaft, preisbereinigt).
Quelle: Lohnstrukturerhebung BFS, SAKE, GAV-Lohnstatistik BFS, Landesindex der Konsumentenpreise BFS, Berechnungen SGB
Die sinkenden Reallöhne bei den unteren und mittleren Lohnklassen tun weh. Insbesondere die 2022 anziehende Teuerung hat die bescheidenen Lohnfortschritte zwischen 2016 und 2022 von nominal 2.8 bzw. 3.7 Prozent wieder zunichtegemacht. Die Einbusse beträgt für beide Lohnklassen rund 700 Franken jährlich. Die «untersten 10 Prozent» verdienen bei Vollzeit knapp 4’100 Franken monatlich (x13). Der mittlere Lohn beträgt etwas mehr als 6’200 Franken.
Ganz anders entwickelt sich die Situation bei den Topverdienenden. Nachdem die Finanzkrise das Aufgehen der Lohnschere gestoppt hatte, geht es für sie seit 2014 wieder aufwärts. Als hätte es keine Abzocker-Kritik gegeben. Zwischen 2014 und 2020 erhielten die «obersten 10 Prozent» 7.2 Prozent mehr Nominallohn. Selbst in der Corona-Krise legten die obersten Löhne zu. 2021 stiegen die Nominallöhne der «Führungskräfte» gemäss SAKE um weitere 4 Prozent.
Die Arbeitnehmenden leben deshalb wirtschaftlich in unterschiedlichen Welten. Die «obersten 10 Prozent» haben einen Lohn von rund 11’000 Franken monatlich (x13). Das sind fast drei Mal mehr als die «untersten 10 Prozent». Die rund 50’000 Arbeitnehmenden, die zum «obersten Prozent» gehören, verdienen alle mindestens 25’000 Franken pro Monat. Im Durchschnitt verdienen diese Arbeitnehmenden aber deutlich mehr, gemäss AHV-Einkommensstatistik rund 45’000 Franken pro Monat. Demgegenüber verdienen die «untersten 10 Prozent» – ungefähr eine halbe Million Arbeitnehmende – 4’100 Franken oder weniger. Im Durchschnitt verdienen diese Personen deshalb eher noch etwas weniger, detaillierte Zahlen dazu fehlen aber.
Enorme Lohnunterschiede
Das oberste Prozent der Arbeitnehmenden erhielt 2020 einen Monatslohn von 25’000 Franken
oder mehr. Die obersten 0.1 Prozent hatten sogar rund 70’000 Franken oder mehr Lohn. Die untersten zehn Prozent – eine halbe Million Arbeitnehmende – erhielt hingegen weniger als
4’100 Franken Monatslohn (Bruttomonatslöhne, auf 100%-Pensum standardisiert).
Quelle: Lohnstrukturerhebung BFS, AHV-Einkommensstatistik BSV.
Dass die Lohnschere wieder aufgegangen ist, zeigt auch die Grafik unten. Die Zahl der Berufstätigen in der Schweiz mit einer Million oder einer halben Million Lohn nahm in den letzten rund 10 Jahren wieder deutlich zu. Die Finanzkrise hat diese Lohnexzesse nur vorübergehend gestoppt. Von 2010 bis 2020 ist die Zahl der «Lohnmillionäre» von 2621 auf 3549 erneut stark gestiegen. 15’637 Personen hatten 2020 einen Jahreslohn von 500’000 Franken oder mehr – gegenüber 11’866 im Jahr 2010. Interessant ist der Vergleich mit der Periode vor Ausbruch der Lohnexzesse Mitte der 1990er-Jahre. Damals gab es rund 300 Lohnmillionäre.
Innert zwanzig Jahren hat sich die Anzahl Lohnmillionäre mehr als verdreifacht (zu Preisen von 2020). Rund 3’500 Personen erhielten 2020 einen Jahreslohn von mehr als einer Million.
Quelle: AHV-Einkommensstatistik BSV
Individualisierung der Lohnpolitik führt zu Ungerechtigkeiten
Einer der wichtigsten Treiber dieser Entwicklung ist die fortschreitende Individualisierung der Lohnpolitik. Die Bonuszahlungen erreichten 2020 einen Höchststand, nachdem die Firmen aufgrund der Abzocker-Kritik vorübergehend etwas zurückhaltender waren. Von den Bonuszahlungen profitieren die Kader und Topeinkommen überproportional. Die Boni waren zu Beginn an die Ertrags- bzw. Aktienkursentwicklung gekoppelt. Als es in der Krise dann runterging, änderten sich die Saläre vergleichsweise wenig. Begründet werden die ungerechtfertigt hohen Saläre mit dem Argument, dass man die Löhne der Kader nicht senken könne, weil man dann keine qualifizierten Führungskräfte mehr finden könne. Doch die Performance vieler Führungskräfte war mangelhaft. Paradebeispiel ist die Credit Suisse, die jüngst erneut in ernsthafte Probleme geraten ist. Doch auch bei vielen anderen Firmen ist die Geschäftsentwicklung nicht besser als in früheren Zeiten ohne die Lohnexzesse.
Abbildung 4: Anteil Arbeitnehmenden mit Bonuszahlungen Der Anteil der Arbeitnehmenden (VZÄ.) mit einem Bonus hat sich in der Privatwirtschaft seit den 1990er-Jahren verdoppelt.
Quelle: BFS-Lohnstrukturerhebung, Gallusser (2022)
Dank Gesamtarbeitsverträgen weniger Ungleichheit und Dumping
Die Lohnabschlüsse in den GAV lagen in den letzten Jahren regelmässig etwas über der allgemeinen Lohnentwicklung (Lohnindex). Die GAV-Löhne stiegen von 2011 bis 2021 im Mittel um 0.8 Prozent gegenüber 0.6 Prozent insgesamt. Allerdings waren 60 Prozent der Lohnerhöhungen individuell, weil es aufgrund der ausbleibenden Teuerung schwieriger war, generelle Lohnerhöhungen durchzusetzen. GAV führen insgesamt zu einer ausgeglicheneren Lohnverteilung und verhindern Dumping und Miss-brauch durch einzelne Firmen. Das zeigt auch die OECD (2019) mit einem Vergleich der Situation in verschiedenen Ländern.
Unter mehrheitlich zentralisierten und koordinierten GAV-Systemen ist das Verhältnis zwischen den höchsten 10 Prozent der Löhne und der tiefsten 10 Prozent knapp 25 Prozentpunkte tiefer als bei individuellen Lohnverhandlungen. Tiefste Löhne: Unterstes Dezil. Mittlere Löhne: Median. Höchste Löhne: Oberstes Dezil. Bemerkung: Signifikant auf 99%-Konfidenzniveau (***), signifikant auf 95%-Konfidenzniveau (**)
Quelle: OECD (2019)
Die Hälfte der Frauen hat ein Monatseinkommen von weniger als 4470 Franken
Frauen verdienen nach wie vor deutlich weniger als Männer. Seit 2012 ist der Lohnrückstand der Frauen gegenüber den Männern praktisch konstant geblieben: Frauen haben im Durchschnitt einen rund 18 Prozent tieferen Stundenlohn als die Männer. Die Auswirkungen des revidierten Gleichstellungsgesetzes, das 2020 in Kraft getreten ist und grössere Firmen verpflichtet, Lohnkontrollen zu machen, müssen in den nächsten Jahren beobachtet werden. Positiv ist, dass dankgewerkschaftlichem Engagement der Lohnunterschied zwischen den Frauen und den Männern bei Stellen ohne Kaderfunktion in den letzten 10 Jahren nahezu halbiert werden konnte. Die Sensibilisierungskampagnen und die höheren GAV-Mindestlöhne haben die Lohnsituation der Frauen verbessert.
Prozentualer Unterschied der Medianlöhne zwischen Frauen und Männern ohne Kaderfunktion. Der Rückstand der Frauen bei den Median-Stundenlöhnen hat sich in den Berufen ohne Kaderfunktion deutlich reduziert.
Quelle: BFS Lohnstrukturerhebung
Weil die Frauen aber viel häufiger Teilzeit arbeiten und in den besser bezahlten Stellen untervertreten sind, sind ihre Einkommen deutlich tiefer als diejenigen der Männer. Die Hälfte der Frauen verdient weniger als 4’500 Franken im Monat. Bei den Männern ist diese Grenze bei 6645 Franken. Zählt man bezahlte und unbezahlte Arbeit zusammen, so arbeiten Frauen und Männer etwa gleich viel, je rund 50 Stunden pro Woche. Frauen arbeiten aber fast 30 Stunden pro Woche unbezahlt, während das Verhältnis bei den Männern gerade umgekehrt ist, also 18 Stunden unbezahlt, 33 Stunden bezahlt (BfS: SAKE 2016).
Das bestbezahlte Prozent der Frauen verdient nur rund halb so viel wie das bestbezahlte Prozent der Männer.
Einkommensschwellen gemäss AHV-Statistik. Zehn Prozent der Frauen bezogen 2020 einen monatlichen Bruttolohn von mehr als 8’712 Franken, neunzig Prozent der Frauen verdienten weniger (AHV-pflichtiger Lohn, brutto).
Quelle: AHV-Einkommensstatistik BSV.
Tieflohnsituation verbesserte sich nicht mehr
Die Tieflohnsituation hat sich in den letzten Jahren leider nicht mehr verbessert. 10.5 Prozent aller Jobs sind so genannte «Tieflohnstellen». Bei einem Vollzeitpensum verdient man dort maximal 4442 Franken im Monat (x12). Positiv ist, dass der Anteil dieser Tieflohnstellen in den letzten 10 Jahren spürbar zurückging. Hauptursache war die Mindestlohnkampagne «keine Löhne unter 4’000 Franken» der Gewerkschaften. In den letzten Jahren gab es jedoch keine Verbesserung der Situation mehr. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie sind in diesen Zahlen gar noch nicht berücksichtigt. Dabei wurden gerade Berufstätige mit geringeren Einkommen besonders davon getroffen. Sie waren häufiger in Kurzarbeit und erhielten nur 80 Prozent ihres Lohnes. Viele mussten die wenigen Ersparnisse aufbrauchen, die sie zuvor mit ihrem knappen Lohn bilden konnten. Besonders betroffen sind Frauen. 16.3 Prozent von ihnen haben nur einen «Tieflohn».
Der Anteil der Tieflohnstellen mit einem Lohn von weniger als 2/3 des Medians stieg in den letzten Jahren wieder leicht, nachdem die Mindestlohnkampagne zu einem markanten Rückgang geführt hatte.
Quelle: BFS Lohnstrukturerhebung
Dank Flankierenden Massnahmen weniger Lohndruck
Mit den Gesamtarbeitsverträgen und den Flankierenden Massnahmen konnten die Gewerkschaften seit Anfang der 2000er-Jahre einen sehr wirksamen Schutz gegen Dumping und Lohndruck aufziehen. Dieser Schutz bestand in den letzten Jahren viele Härtetests. Politisch wurde er mehrmals angegriffen. Sei es durch die FDP-Bundesräte Cassis und Schneider-Ammann bei den Verhandlungen zum Rahmenabkommen. Oder im Parlament unter der Führung der SVP. Dazu kam die sehr starke Aufwertung des Frankens, welche den Einsatz von «billigeren» Entsendefirmen wirtschaftlich nochmals attraktiver gemacht hat. Bei den Lohnkontrollen werden regelmässig bei rund jeder fünften Firma zu tiefe Löhne festgestellt. Die Firmen werden sanktioniert und aufgefordert, ihre die Löhne anzupassen. Alleine dadurch erhalten die Arbeitnehmenden gegen 50 Millionen Franken pro Jahr mehr Lohn. Dazu kommt ein indirekter der Effekt des Lohnschutzes. Bereits weil die Firmen wissen, dass sie kontrolliert und zur Rechenschaft gezogen werden können, zahlen sie bessere Löhne.
Lohndifferenz gegenüber SchweizerInnen/Niedergelassenen bei gleichen Eigenschaften. Unter dem früheren Kontingentssystem verdienten KurzaufenthalterInnen bei gleicher Arbeit 13.6 Prozent weniger. 2018 waren es nur noch 1.9 Prozent.
Quelle: BFS Lohnstrukturerhebung, 1996: De Coulon et al. (2003), 2018: Seco
Die Lehre zahlt sich für viele zu wenig aus
Beunruhigend ist die Lohnentwicklung von Berufstätigen mit einer Lehre: Die Reallöhne sind von 2016 bis 2020 gesunken. Dabei sind die Löhne nach einer Lehre in vielen Fällen alles andere als hoch. Ein Viertel der Arbeitnehmenden mit Lehre verdient weniger als 5’000 Franken im Monat (Vollzeit, x12) – darunter BäckerInnen, VerkäuferInnen, aber auch HochbauzeichnerInnen und andere Berufe. Angesichts der hohen Krankenkassenprämien und der Mieten reicht der Lohn mit Lehre immer weniger zum Leben. Es stellt sich immer mehr die Frage, ob der Glaubenssatz der Schweizer Bildungspolitik, «die Lehre ist der Königsweg», überhaupt noch zutrifft. Lange war es selbstverständlich, dass man mit einer Lehre eine Familie haben kann. Mit 5’000 Franken Lohn ist das kaum mehr möglich. Neu ist zudem, dass auch bei denjenigen, die nach der Lehre eine Zusatzausbildung in der höheren Berufsbildung oder an einer Fachhochschule machen, die Löhne in den letzten Jahren nicht mehr gestiegen sind.
Reallohnentwicklung nach Ausbildungsstufen 2016-2020, Berufstätige ohne Kaderfunktion
Arbeitgeber beteiligen sich nicht mehr an Arbeitszeit-Verkürzung
Ungenügende Lohnerhöhungen, hohe Abgaben und Mieten spürt man sofort im Portemonnaie. Doch es gibt auch andere Faktoren, die sich indirekt auf die Einkommenssituation auswirken. Allen voran die Arbeitszeit. Bis in die 1990er-Jahre haben die Arbeitgeber die betriebsübliche Arbeitszeit alle 10 Jahre um etwas mehr als 1 Stunde pro Woche verkürzt – bei gleichem Lohn. Seither ist kaum mehr etwas geschehen. Bei Vollzeit muss immer noch etwas mehr als 41 Stunden gearbeitet werden. Viele Arbeitnehmende können aber nicht Vollzeit arbeiten, weil sie Betreuungspflichten haben, oder aus anderen Gründen. Sie senken ihr Arbeitspensum – mit entsprechenden Lohn- und Renteneinbussen. Konkret bedeutet das, dass sich die Arbeitgeber finanziell nicht mehr an kürzeren Arbeitszeiten beteiligen und die Arbeitnehmenden die Kosten selber tragen müssen. Da immer noch der grösste Teil der Betreuungspflichten von Frauen erledigt wird, sind lange Arbeitszeiten auch ein Treiber von Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern: Frauen arbeiten öfter Teilzeit als Männer, was sich negativ auf Karriere, Löhne und Renten auswirkt.
Veränderung pro Jahrzehnt in h/Woche
Quelle: BFS
Bis 1990 sank die übliche Arbeitszeit alle 10 Jahre um etwas über eine Stunde. Seit 1990 geht die Arbeitszeit nur noch zurück, weil die Arbeitnehmenden Teilzeit arbeiten.
Quelle: BFS
Der Druck am Arbeitsplatz steigt seit Jahren. Mittlerweile ist fast jede dritte berufstätige Person «ziemlich» oder «sehr» erschöpft. Die Gründe sind vielfältig. Meistens stellen die Arbeitgeber zu wenig Personal ein, sodass die Arbeitnehmenden mehr Arbeit haben, als sie mit ihren Ressourcen bewältigen können. Immer häufiger wird aber auch die Klage geäussert, dass die Chefs die Arbeit schlecht organisieren. Branchen- und berufsfremde Manager stören mehr, als sie unterstützen.
In zahlreichen Berufen steigen die ausgebildeten Arbeitnehmenden deshalb vorzeitig aus, was die Probleme noch verstärkt. Oder sie reduzieren ihr Arbeitspensum mit entsprechenden Einkommenseinbussen – wenn sie es sich leisten können. Im Gesundheitswesen verlassen beispielsweise 40 Prozent des Pflegepersonals den Beruf vorzeitig.
Statt diese Probleme zu lösen, starten die Arbeitgeber fortwährend neue Angriffe auf den Gesundheits- und Arbeitnehmerschutz. Sie wollen die Arbeitszeiten verlängern, die Ruhezeiten verkürzen oder die Arbeitszeiterfassung teilweise abschaffen.
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